Bedenkt man die Annäherung an die Bildende Kunst, die die avancierte Musik der vergangenen Jahrhunderthälfte in ihren graphischen Notationen unternahm, liegt die Überlegung nahe, mit einer entsprechenden Partitur das Tintenfraß-Modell von Linda Schwarz explizit musikalisch zu interpretieren. So entstand in Zusammenarbeit von Linda Schwarz und dem Musikwissenschaftler Volker Straebel die konzeptionelle Partitur "Tintenfraß Bach".
Mit jeder Seite des Manuskripts der Cello-Suiten korrespondiert ein Transparent, auf dem sich einzig die von der Gegenseite durchschlagenen Tintenfraß-Zeichen befinden. Diese Zeichen interpretiert ein Cellist als graphische Notation, er liest sie zeilenweise von links nach rechts. Ihre vertikale Ausrichtung bezeichnet die zu spielende Tonhöhe, die Zeitabstände sind zu den horizontalen Abständen proportional. Zur Orientierung auf der Partiturseite dient ein weiteres Transparent, und zwar entweder eines, auf dem nur die Mittellinien der Notensysteme oder aber eines, auf dem die Außenlinien der Notensysteme eingetragen sind. Diese Systeme sind die leeren Notensysteme der Seite, auf die der Tintenfraß durchschlägt, nicht die, in die die den Tintenfraß erzeugenden Zeichen eingetragen wurden.
Für eine Aufführung wählt der Cellist eine beliebige Gruppe unmittelbar aufeinanderfolgender Partitur-Seiten, die allerdings nicht aus verschiedenen Suiten entstammen dürfen. Jede Seite bildet einen Satz. Innerhalb eines Satzes gilt für jede Notenzeile die gleiche, von uns nicht näher bestimmte Dauer. Der Spieler mag sich hier von den korrespondierenden Satzbezeichnungen der Bach’schen Vorlage leiten lassen. Allerdings ist der Eindruck des Tempos stark abhängig von der Dichte der durchgeschlagenen Tintenfraß-Zeichen, die von Seite von Seite mitunter stark differiert. Während die Zeiteinteilung sich mit jedem Satz ändern kann, ist die Wahl eines Interpretationsverfahrens mit Mittellinie oder Außenlinie der Notensysteme für den gesamten Rahmen einer Aufführung verbindlich.
Dem konzeptionellen Ansatz der bildnerischen Arbeit entspricht hier der kompositorische. Ebenso wie sich Linda Schwarz in ihren Bildwerken neuer Drucktechniken bedient und nicht Verfahren des 18. Jahrhunderts reproduziert, nutzt die Partitur "Tintenfraß Bach" musikalische Verfahrensweisen, wie sie in der aktuellen Musik inzwischen etabliert und verbreitet sind. Statt, wie es wegen der spiegelbildlichen Anlage der Tintenfraß-Zeichen zu erwarten wäre, die Tintenfraß-Töne Zeile für Zeile rückwärts in originaler Tonart und ursprünglichem Rhythmus zu notieren, beschränken sich die Vorgaben an den Interpreten auf die aus dem Konzept schlüssig abzuleitenden Informationen. Die tonale Orientierung weicht den mit Millimeter-Papier oder Zentimetermaß zu bestimmenden Mikro-Intervallen. Der sichere metrische Fluss wird aufgelöst in unvorsehbare, mit der Stoppuhr bestimmte Einsätze. Die Sicherheit der musikalischen Ordnung des Barock ist ebenso verloren wie das Vertrauen in die sichere Überlieferung der Schrift. Dem entspricht das freie Tasten im musikalischen Raum von "Tintenfraß Bach".
07.00 Volker Straebel