Kunst und Musik, Kunst als Musik
(music and art, music as art)

Zu den Musik-Bildern von Linda Schwarz

Musiker Bilder
Bach Bilder
Tintenfraß Bach



Die Kunst scheint von jeher von Musik geredet zu haben. Abbildungen von Musikern finden sich in prähistorischen Felsenmalereien ebenso wie auf Reliefs und Keramiken der frühen Hochkulturen. Auch wenn sich streiten lässt, ob diesen Darstellungen der Charakter des Kunstwerkes im emphatischen Sinne zukommt, so verbindet sie doch mit späteren Bildwerken, etwa denen der Niederländer Meister, die Szenen häuslichen Musizierens wiedergeben, ein charakteristisches Dilemma. Sie zeigen dem Auge Personen und Handlungen, die wesentlich durch das bestimmt sind, was sich dem Blick verschließt: die Bilder bleiben stumm. Sie zeigen das Musizieren, nicht die Musik.

Nun ließe sich argumentieren, dass jedes noch so realistisches Abbild der Welt doch stets nur Zeichen ist und auf eine Vielzahl von Qualitäten verweist, die es selbst nicht an sich hat. Ein besonders kunstvoll gemalter Pelzkragen mag mit seiner seidig glänzenden Oberfläche das Gefühl evozieren, das sich bei seiner Berührung einstellt. Er kann darüber hinaus an seine schützende Wärme denken lassen und den sozialen Status seiner Trägerin bestimmen. All dieses bedeutet das Bild des Pelzes ohne es selbst zu sein. (Ähnliches gilt übrigens für die Kunstfertigkeit des Malers und die wirtschaftliche Potenz von Auftraggeber und Eigentümer). Warum also sollte bei Bildern von Musikern die Differenz zwischen Dargestelltem (Musizieren) und dessen Folgen (Klang) besonders schwer wiegen?

Macht die Kunst Musik zu ihrem Gegenstand, so handelt sie in besonderer Weise von sich selbst und ihren Grenzen. Das Bild einer Cembalospielerin ist anders stumm als das einer ihre Ware anpreisenden Marktfrau. Beide Sujets sind von Akustischem geprägt. Doch bleibt dieses der Marktschreierin akzidentell, wohingegen die Musikerin wesentlich durch ihr Spiel bestimmt ist. Auf einem Gemälde von Gerard Terborch (1617-1681) sitzt sie ganz in die Ecke des Raumes gedrängt, den Blick auf die dem Betrachter verborgenen Tasten gesenkt. Wegen der gestauchten Perspektive verschwindet sie förmlich hinter ihrem Instrument, dem gegenüber sich eine Viola da Gamba spielende Dame niedergelassen hat. Diese wendet dem Betrachter den Rücken zu. So finden wir uns ausgeschlossen vom privaten Musizieren, das sich an keine Hörer neben den beiden Frauen richtet. Dass das Bild qua seiner medialen Bedingtheit so schmerzlich stumm bleibt, korrespondiert mit der dargestellten Situation.

Einen ähnlichen Blick auf die Musik entfaltet Linda Schwarz in jenen Graphiken, auf denen sich Musiker abgebildet finden. Schon ihre mit Schellack übermalten Zeichnungen, die 1989 nach Studien in den Cello-Klassen der Hochschule der Künste Berlin entstanden, betonen das Hermetische eines in der Bewegung mit seinem Instrument verschmelzenden Musikers. Auch in feinen Umrisszeichnungen erscheinen diese Figuren geradezu abweisend kompakt und es ist, als spielten die Cellisten nur für sich oder arbeiteten im Sinne mechanischen Exekutierens an ihrem Instrument. Diesen Eindruck vermitteln auch die aus komplizierten Video- und Polaroid-Überlagerungen abgeleiteten Foto-Lithos. Selten sind die Motive zweifelsfrei auszumachen, ihr Klingen ist kaum mehr zu erahnen. Der Prozess visueller Entfernung vom ursprünglich Abgebildeten ist das Verbergen der Viola da Gamba hinter dem Rücken ihrer Spielerin.

Die Radierungen "Konzert", 1998 entstanden nach Skizzen von Proben von Peter Serkin (Klavier), Pamela Frank (Violine) und Yo Yo Ma (Cello) im Jahre 1993, sprechen eine etwas andere Sprache. Die drei Musiker, wie ihre Instrumente gebildet aus Umrissen und Bewegungslinien, verbinden sich auch visuell zu einem Ensemble, das sich kaum vom egalisierenden Plattengrund löst. In der Folge von vier Blättern wird der Bewegungsgestus immer dichter und die Konturen des Klaviertrios verschwinden schließlich im Gewirr der instrumenten-typischen Gesten. Die Ausgeschlossenheit des Betrachters von der Musik liegt hier weniger im Schweigen der Bilder (in dem Konzert erklang übrigens neben Werken von Franz Schubert und Ferruccio Busoni eine Uraufführung von Toru Takemitsu) als in der Sinnstiftung der Bewegungen durch den verborgenen Klang. Wer hörte, wüsste, was er sieht, wer zu sehen versteht, weiß, er sähe mehr, vermochte er zu hören.

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Müde, mit der Verweis auf Klingendes stets die eigene Begrenztheit aufzuzeigen, unternahm es die Kunst im 19. Jahrhundert im Zusammenhang mit der Verbindung der Einzelkünste im Gesamtkunstwerk, sich explizit musikalische Qualitäten anzueignen. Die Symbolisten forschten ebenso wie manche Vertreter des Bauhaus nach synästhetischen Entsprechungen von Bild und Klang, die Maler des Blauen Reiters beschrieben ihre Werke in musikalischen Termini oder versuchten umgekehrt, Musikwerke bildnerisch umzusetzen. Farben sollten klingen und sich in rhythmischen Proportionen auf der Leinwand angeordnet finden. Die zunehmende Abstraktion vom musikalischen Gegenstand zielte auf die tiefere, wahrnehmungspsychologische Verknüpfung von Auge und Ohr.

Linda Schwarz beschreitet mit ihren Arbeiten zu den Cello-Suiten von Johann Sebastian Bach einen anderen Weg. Sie besann sich auf die durch beider Schriftlichkeit gegebene Nähe von komponierter Musik und Bildender Kunst. So wie das Bild eines Laute spielenden Knaben auf diesen verweist, so verweist eine Partitur und ebenso ein Bild von dieser auf das in ihr fixierte Musikstück. Dabei ist beider Referenzcharakter ein doppelter. Nicht ein bestimmter musizierender Knabe muss gemeint sein, auch die Idee eines solchen ist in dem Bild geborgen. Ebenso handelt die Partitur von der Idee des jeweiligen Musikwerkes selbst, die durchaus verschieden sein kann von einer realen Aufführung.

Als etwa zur gleichen Zeit, in der wirre Buchstabenfolgen, einzelne Wörter und Zeitungsausrisse Eingang in dadaistische Collagen fanden, die Kubisten neben Fragmenten von Musikinstrumenten auch Elemente der Notenschrift in ihre Gemälde integrierten, begann der bildnerische Verweis auf Klingendes jenseits der Abbildung dessen konkreter Produktion. An dieser Nahtstelle zwischen visueller Struktur und Zeichenhaftigkeit sind auch mehrere Werk-Zyklen von Linda Schwarz angesiedelt. Literarische Vorlagen wie Manuskripte von Friedrich Hölderlin oder die Abreibung einer Inschrift von Georg Trakl sind ihr ebenso bildnerisches Material wie semiotischer Ausgangspunkt intellektueller Reflexion. In ähnlicher Weise fügt Linda Schwarz Partiturauszüge in den Bildraum ihrer Graphiken, wobei die Buchstaben- und Notenzeichen stets einziger Bildgegenstand bleiben. Ihre Bearbeitung folgt visuellen Gesichtspunkten ebenso wie wissenschaftlich anmutenden strengen Konzepten. Text als Text und Text als Bild sind in dieser Kunst zwischen visueller Gestaltung, literarischer Interpretation und musikalischer Komposition unauflösbar miteinander verbunden. Denn so wie Wörter Begriffe bezeichnen und man beim Lesen der Buchstabenfolge "Tisch" eine Vorstellung des Gemeinten hat, so imaginiert derjenige, der Noten zu lesen versteht, beim Betrachten eines Notentextes Harmonien oder den Verlauf einer Melodie. Doch wegen der ikonografischen Eigenschaft der Notenschrift hat auch der Ungeübte eine vage Vorstellung vom abgebildeten Tonverlauf. Wie die Notenköpfe gehen die Töne bald aufwärts, bald abwärts, stehen wenige lange Töne in einem Takt oder viele kurze. Man kann die Bach-Zyklen von Linda Schwarz somit als Bildwerke betrachten, als Texte lesen, ihre Musik imaginieren oder tatsächlich spielen.

1993 entstanden die ersten vierteilige Zyklen aus Blättern mit dem einfachen Abdruck und der zwei-, drei- und vierfachen Überlagerung des Notentextes der Prélude der ersten Cello-Suite von Johann Sebastian Bach in unterschiedlich freier Umschrift. Einmal fehlten die Notenhälse und die das Schriftbild der Prélude dominierenden Sechzehntelbalken, ein andermal fanden sich die auf einer immer wieder wiederholten Tonhöhe einen Orgelpunkt bildenden Notenköpfe zu einer langen waagerechten Linie verbunden.

Mit zurückhaltenden Eingriffen betonte Linda Schwarz so verschiedene Aspekte dieser Musik, ihr etüdenhaftes Auf und Ab oder ihren verborgenen Kontrapunkt. Dabei erreichte sie, wie auch in ihren Silberstiftzeichnungen, philologische Präzision in der Übertragung der Noten. Auch wenn durch die beschriebene Bearbeitung, die Überlagerung mehrerer Schichten oder die gelegentliche Übermalung der Notentext in der Dichte der Zeichen zu verschwinden scheint, kann er doch stets – zumindest theoretisch – einem Cellisten als Spielvorlage dienen. Man fühlt sich an die Serie "Konzert" erinnert, deren zunehmende Dichte ebenfalls ihr Material gleichermaßen birgt wie verbirgt.

Die Vorstellung, dass ihre Bach-Arbeiten eigentlich gespielt werden können, hat Linda Schwarz stets begleitet. Zu den vierteiligen Überlagerungs-Zyklen entstand am Studio für Elektroakustische Musik der Hochschule der Künste Berlin ein vierkanaliges Tonband, auf dem vier Cellisten unabhängig von einander ihre Interpretation der Prélude der ersten Bach-Suite spielen. Wie in den Bildern von Schwarz ergibt sich ein feines, nun akustisches Gewebe aus Gleichzeitigkeit des Zusammenspiels und geringer Abweichung, schließlich zunehmender Verdichtung und unentwirrbarer Überlagerung. Und wie in den Bildern weiß man auch in den Bereichen klanglichen Durcheinanders um die Ordnung, die hinter diesem steht. Jeder Einzelton steht im Zusammenhang einer melodischen Folge, auch wenn diese nicht mehr hörend nachvollzogen werden kann.

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Es ist nicht verwunderlich, dass ihre Beschäftigung mit den Cello-Suiten Bachs Linda Schwarz schließlich zu dem Manuskript führte, in dem diese überliefert sind. Die Bildende Künstlerin, die ihre Unikat-Drucke oft auf speziell für sie angefertigten handgeschöpften Papieren ausführt, hat ein besonderes Verhältnis zum handschriftlichen Original. Zunächst spiegelte sich dieses in der faksimilehaften Übernahme der Schriftzüge von Bachs Frau, Anna Magdalena, wieder, ausgeführt im Xeroxtransferverfahren und der Nachahmung des Schriftgestus in manueller Kopie. Bald aber konzentrierte sich Linda Schwarz auf die als Tintenfraß bekannten Zeichen physischen Verfalls der Handschrift und überführte dessen bildnerische Dokumentation schließlich zum konzeptionellen Verfahren künstlerischer Gestaltung.

Bach und sein familiäres Umfeld, in dessen Abschriften viele Werke – wie auch die Cello-Suiten – einzig überliefert sind, verwendeten aus Eisensulfat [FeSO4], Galläpfeln (das sind etwa kugelförmige Auswächse an Blättern) und Gummi Arabicum wahrscheinlich selbst gemischte Eisengallustinten. Zusammen mit dem als Lösungsmittel verwendeten Wasser bildet das Eisensulfat Schwefelsäure [H2SO4] aus. Diese wirkt im übrigens hochwertigen Papier, das im Hause Bach Verwendung fand, als Katalysator zur Zersetzung der Zellulose-Fäden in kurzkettige Zucker-Moleküle. In der Folge verliert das Papier an den beschriebenen Stellen seine mechanische Festigkeit. Es wird dünner und bricht schließlich aus. Da die Schwefelsäure hier als Katalysator wirkt, wird sie in diesem Prozess nicht abgebaut und der Vorgang kommt auf natürlichem Wege nicht zum Erliegen.

Darüber hinaus wandern die Eisen(II)-Ionen des Eisensulfats in das Papier und führen – wiederum als Katalysator – zur Oxidation des Zellulose an der Luft. Dadurch vermindert sich ebenfalls die Festigkeit des Papiers und es bildet sich die typische Braunfärbung. Schließlich oxidieren die Eisen(II)-Ionen zu Eisen(III)-oxidhydrat, also Rost. Dieser ist chemisch nicht mehr aktiv und wäre aus konservatorischer Sicht unbedenklich, könnte er sich nicht zu Eisen(II)-Ionen zurückbilden.

Die Folge dieser Prozesse ist, dass einzelne Stellen der Notenschrift auf der jeweiligen Gegenseite eines jeden Blattes sichtbar werden, dass also die Tintenfraßzeichen auf die andere Seite des Blattes durchschlagen. Eben diese Tintenfraßzeichen wurden nach intensiven Studien am Original-Manuskript zur neuen Materialebene in den Drucken von Linda Schwarz. Sie treten zu den Noten einer Partiturseite hinzu und werden durch frei gestaltete Notenhälse und –balken unauffällig in das Schriftbild integriert.

In einem nächsten Schritt betrachtet Linda Schwarz den Tintenfraß nicht mehr als beobachtete Gegebenheit, sondern als konzeptionelles Verfahren. Sie löst den Beschreibstoff gedanklich auf und kombiniert Vorder- und Rückseite eines Manuskriptblattes zusammen in einer Graphik. Wiederum frei ausgebalkt entstehen so zweistimmige Sätze, die man auf einem Cembalo spielen könnte. Oder die beiden Seiten eines Blattes bleiben farblich von einander getrennt und Satzbezeichnungen, die mittlere Notenlinie und sämtliche Notenköpfe verbinden sich zu einer vorgefundenen, doch erst nach künstlerischer Intervention erfahrbaren Struktur.

Die Grenzen von Musik und Kunst verschwimmen in diesen Arbeiten. Ihr bildnerisches Material leitet Linda Schwarz in den Bach-Zyklen einzig aus dem vorgefundenen Notentext ab. Das, was in diesen Bildern als Zeichen erscheint, handelt von Musik. Auch der musikalische Laie vermag aus dem Steigen und Fallen der Notenköpfe wage Tonhöhenverläufe zu imaginieren. Ebenso teilt sich die Dichteverteilung auf den Blättern unmittelbar mit. Auch ohne reale akustische Umsetzung stellt sich der Eindruck einer Augenmusik ein, die allein in der Vorstellung des Betrachters lebt.

Damit scheint jedoch der eingangs erörterte Konflikt zwischen stummer Kunst und klingendem Gegenstand überwunden. Der Betrachter ist weder ausgeschlossen von dieser visuellen Musik, noch erscheinen die Blätter von Linda Schwarz defizitär ob ihrer medialen Beschränktheit auf den Seh-Sinn. Bedenkt man, dass das Tintenfraß-Verfahren in diesen Arbeiten einer konzeptionellen Komposition gleichkommt, lassen sich diese Notenbilder begreifen als originäre Musikwerke, deren Genese und Gestalt umgekehrt der Schwesterkunst verpflichtet sind. Dann wären sie als Musik defizitär, weil sie sich nicht dem Hören allein erschließen und des konzeptionellen Kontextes ihrer Entstehung zum Verständnis bedürften. Nicht die Kunst bliebe dann stumm, sondern die Musik blind.

Volker Straebel 7.00

 

Das Kunst- und Musikwerk "Tintenfraß Bach"
Die Partitur "Tintenfraß Bach"

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© Volker Straebel kein Abdruck ohne schriftliche Genehmigung des Autors / no reprint without author's written permission