"but always precise..."

Zum Musikdenken Benedict Masons

Die Zeiten stehen schlecht für tiefgreifende Neuerungen in der Musik. Nach der Revolution der musikalischen Mittel in der ersten Jahrhunderthälfte und der Nutzbarmachung der elektronischen Medien für die Musik haben in den vergangenen dreißig Jahren jüngere Komponistengenerationen uns eine Vielzahl von Stilen und Moden beschert, kaum aber unseren Begriff davon, was Musik eigentlich sei, maßgeblich verändert. Die Fluxusbewegung riß in den fünfziger und sechziger Jahren die engen Grenzen der seriellen Tonkunst nieder und verhalf dem experimentellen Musiktheater, multimedialer Installation und Musikperformance zu ersten Schlüsselwerken ihres Genres, doch erscheint heute dieses enge Miteinander der Künste bereits einer historischen Epoche anzugehören. Die Klangkunst schließlich, die als originäre Kunstform vor einem Vierteljahrhundert ihren Anfang nahm, und der das Verdienst zukommt, die Trennung der verschiedenen Kunstgattungen überwunden zu haben, hat kaum auf die Musik eingewirkt. Sei es, daß Komponisten die Auseinandersetzung mit einer Kunst fürchten, die die ihre latent bedroht, sei es, daß die Klangkunst tatsächlich die Musik obsolet erscheinen läßt und ihr nichts mehr zu bieten hat - nur wenige Künstler sind heute in beiden Feldern tätig.

Zu diesen gehört Benedict Mason, der sich zunächst als Filmemacher ausbildete, ehe er in den achtziger Jahren zu komponieren begann. Von 1986 an entstanden in rascher Folge oft mit internationalen Preisen ausgezeichnete Werke für die verschiedensten Besetzungen in großer stilistischer Vielfalt, was die Musikkritik nicht daran hinderte, den Engländer auf seine durchstrukturierten, dichten Stücke einzuschränken. Masons um 1993 einsetzende Konzentration auf äußerst differenzierte, mitunter klanglich karge Raummusiken mußte so als Bruch eines Personalstils erscheinen, den es in der unterstellten Ausschließlichkeit nie gegeben hat. Berücksichtigt man jedoch Masons Klanginstallationen und die in jüngster Zeit entstehenden visuellen Arbeiten, ergibt sich ein einheitlicheres Bild seiner künstlerischen Produktion.

Geographie

Seit seiner ersten gültigen Komposition, der Hinterstoisser Traverse für Kammerensemble von 1986, mit der er 1989 den Internationalen Kompositionspreis des WDR gewann, schreibt Benedict Mason immer wieder Kompositionen, die den Gebrauch geographische Metaphern zur Beschreibung seiner Musik nahezulegen scheinen. Dabei wären die weiten Dimensionen ganzer Landschaften zu denen dem musikalischen Raum eigenen Größenordnungen ins Verhältnis zu setzen. Die Hinterstoisser Traverse etabliert ein klangliches Relief, in dem verschiedene Ebenen durch unterschiedliche Rhythmik und Klanggestaltung sich von einander abheben, auseinander hervorgehen oder wieder verschwinden. Dabei verzichtet der Komponist gerade auf jene musikalischen Gestaltungsmittel, mit denen üblicherweise Räumlichkeit evoziert wird: Seinen Tonvorrat reduziert er auf den einzigen Ton g", so daß der Raum nicht über den Parameter der Tonhöhe aufgespannt werden kann, und auch die dynamische Anlage läßt nicht an das Verhältnis von Nähe und Ferne denken. Allein die komplexe Schichtung verschiedener Metren, wechselnde Dichtegrade und die Instrumentation sorgen für eine räumliche Staffelung des Klanges.

Im Vorwort der Partitur vergleicht Mason seine eigene kompositorische Strategie mit der Situation des Alpinisten Hinterstoisser in der Eiger Nordwand. Dessen räumliche Bewegung, die ihren Zielpunkt, den Gipfel, nicht erreicht (Hinterstoisser starb tragisch wegen eines Wetterumschwungs, doch nutzten andere Bergsteiger nach ihm erfolgreich seine Passage), wird Mason im kompositorisch-konzeptionellen, nicht im formal-klanglichen Sinne zum Weitertasten in der Zeit, ohne eigentliches Ziel ("du kannst nicht teleologisch vorgehen mit nur einem Ton"). Die Begrenzung des musikalischen Materials lenkt die Aufmerksamkeit auf das Problem der kompositorischen Entscheidung. Und diese vollzieht sich hier in kleinen Schritten, statt große formale Bögen zu entwerfen - wie der Bergsteiger, der sich von einem Felshaken zum nächsten bewegt.

Dem Orchesterwerk Lighthouses of England and Wales liegt ebenfalls eine konzeptionelle Reise zugrunde. Im Sommer 1987 besuchte Benedict Mason die meisten Leuchttürme zwischen Solway Firth im Westen und den Farne Islands im Osten der englischen Küste und dokumentierte genau die Verhältnisse ihrer Signalfrequenzen. In einem impressionistisch anmutenden Stück porträtierte er dann einzelne Leuchtfeuer, konfrontierte aber auch unterschiedliche Signale in komplexen Interferenzrhythmen.

Die Musik über Leuchttürme ist zugleich eine Musik über die lautmalerischen Symphonischen Dichtungen der Musikgeschichte. Wie in anderen Werken dieser Zeit befragt Mason eine frühere Musiksprache, ohne sie als bloße Stilkopie nachzubuchstabieren. Vielmehr werden in postmodern ironischer Manier ihre Möglichkeiten hinterfragt und ihre Grenzen überschritten, in diesem Fall indem die musikalische Form der rigiden, letztlich zufälligen Abfolge der Leuchtfeuersignale folgt. Wenn auch in Lighthouses of England and Wales komplexe rhythmischen Schichtungen entstehen, sind diese als Zeugnis eines zeitgenössisch-mathematischen Begriffs von Summen-Rhythmik zu deuten, nicht als impressionistisch-schillernde Instrumentation. Genau diese Doppelbödigkeit reizt jedoch den Komponisten.

Masons 1997 in Donaueschingen uraufgeführtes Werk The Four Slopes of Twice among Gliders of her Gravity für einen Pianisten an zwei präparierten Flügeln (Steinway D), deren linker außerdem verstimmt ist, und zwei Selbstspielflügel (Ampico Paper Roll Pianos) von 1997 läßt sich ebenfalls mit der geographischen Metapher interpretieren. Wie das Gitternetz der Längen- und Breitengrade die Weltkugel willkürlich gliedert, schlägt die abendländische Musiktheorie die zwölf Schneisen der temperierten Stimmung in die Welt der möglichen akustischen Ereignisse. Bei einem verstimmten und präparierten Flügel hingegen lauern interessante und stets überraschende Klänge hinter den 88 Tasten. So stellt The Four Slopes... vier gleichgestaltete Rastersysteme einander gegenüber, die auf verschiedene Wirklichkeiten verweisen. In dem an Wiederholungen von Einzeltönen oder einfachen, leicht veränderten Intervallen reichen, ausgesprochen leisen Stück - am Beginn erklingt nur das Klappern der Mechanik der Selbstspielflügel, ohne daß Töne angeschlagen würden - werden die abgeschlossenen Welten der vier die Bühne beherrschenden Flügel über das gemeinsame Koordinatensystem zu einem Klangverlauf vereint.

Konzerträume

In einer anderen Werkgruppe untersucht Benedict Mason die räumlichen und akustischen Bedingungen von Musikaufführungen in Konzertsälen. Für Ohne Mißbrauch der Aufmerksamkeit, das 1993 als Auftragswerk des Hessischen Rundfunks für das Radio-Sinfonie-Orchester Frankfurt entstand, legte der Komponist nach kammermusikalischen Vorläufern (Horn-Trio) erstmals die genaue räumliche Verteilung eines großen Ensembles über das gesamte Konzerthaus fest. Die Streicher umgeben das Publikum (die Violinen sitzen auf den Randplätzen), nur die Kontrabässe und fünf Schlagzeuger befinden sich auf der Bühne. Die Holzbläser sind in den drei Logen des Sendesaals des Hessischen Rundfunks untergebracht, die Blechbläser spielen im Foyer und sechs Hörner bewegen sich auf genau festgelegten Routen durch das Haus. Gleich zu Beginn gibt sich einer der Kontrabassisten auf dem Podium als Schauspieler zu erkennen und rezitiert das Stück hindurch assoziationsreiche Gedankensplitter, die aus einem Autorenfilm der 60er Jahre stammen könnten. Währenddessen entwickelt sich eine sehr spannungsvolle, in schwankender Terzenharmonik angelegte Musik, voll Expressivität.

"There is nothing intentionally humorous in this piece" vermerkt Benedict Mason im Partiturvorwort und distanziert sein Stück von den fröhlichen Happenings aus Fluxustagen. Statt Theater zu machen erforscht Mason die physikalische Konzertsaalakustik mit künstlerischen Mitteln. Er will weder Publikum, noch Musiker oder Veranstalter provozieren, obwohl deren mitunter heftige Reaktionen durchaus als soziologische Aspekte seiner Aufführungen gelten dürfen. (Mason dokumentiert den umfangreichen Schriftwechsel, der im Zusammenhang mit solchen Aufführungen entsteht, genau. So auftretende Probleme analysiert und bei künftigen Aufführungen vermieden werden). Es geht hier allein um die vollständige Ausschöpfung der in einer Konzertaufführung zur Verfügung stehenden Mittel, und dazu gehört auch, nicht nur das Orchester, sondern auch das Publikum und schließlich den Konzertsaal selbst als Instrument zu begreifen. In den Musics for European Concert Halls färben unter anderem Wandelgänge und Treppenhäuser, Stimmzimmer und Garderobenräume mit ihrer jeweils charakteristischen Akustik den Klang der verschiedenen, in der Regel synchronisierten Fernorchester.

Ausgangspunkt für Ohne Mißbrauch der Aufmerksamkeit war das romantische Gemälde Spreeufer bei Stralau von Karl Friedrich Schinkel, das durch einen klassizistischen Rundbogen hindurch den Blick auf den sich bis zum Horizont erstreckenden Fluß mit einem konstruierten Panorama von Berlin in der Abenddämmerung frei gibt. Ein junger Mann stößt einen Kahn vom Ufer ab, in dem zwei musizierende Hornisten sitzen. Dies paßte zu Masons Interesse an sich bewegenden Klängen, die von umhergehenden Instrumentalisten statt von mehrkanaligen Lautsprechersystemen erzeugt werden. Außerdem läßt sich von diesem Bild einer Musik im Freien die Brücke schlagen zu Masons Integration technischer Hintergrundgeräusche des Konzertsaals in seine Kompositionen. Waren dies zunächst nur Aufnahmen konkreter Klänge wie Türenknarren, so finden sich in späteren Stücken genaue Vorschriften über die Behandlung von Klimaanlagen und Wassersystemen während der Aufführungen.

Besonders deutlich wird dies im 1995 entstandenen Schumann Auftrag (Live Hörspiel ohne Worte), der Sechsten Musik für einen europäischen Konzertsaal. Der Anfrage, für eine Schumann-Konzertreihe ein Klarinettentrio zu schreiben, kam Mason nach, in dem er die bekannteste Komposition Schumanns, in der Klarinette, Cello und Klavier gemeinsam auftreten, das Klavierkonzert, dekomponierte. Sein Stück basiert auf genau diesen Stimmen aus dem Klavierkonzert, die nun in Auszügen live gespielt, aber auch in verschiedenen Aufzeichnungen vom Achtspurtonband über teilweise im Außenraum angeordnete Lautsprecher wiedergegeben werden, und zwar nur dann, wenn im Original alle drei zusammen erklingen. Als Synchronisationsspur dient eine alte Aufnahme des Werkes aus den 50er Jahren mit ihrer schlechten Klangqualität und ihren interpretatorischen Eigenheiten. Das Ausgangsmaterial für Schumann Auftrag wurde ebenfalls im Sendesaal des Hessischen Rundfunks aufgenommen. Die Mikrophonierung bezog dabei die akustischen Eigenschaften des Saales bewußt mit ein. Mason stellte - zum Schrecken des Tonmeisters der ersten, abgebrochen Produktion im Saarländischen Rundfunks - die Mikrophone gelegentlich extrem weit von den Instrumentalisten entfernt auf, so daß dort nicht nur ein sehr schwaches Signal anlag, sondern dieses auch noch durch raumakustische Phänomene und Störgeräusche überdeckt wurde. So thematisiert Mason in seinem überaus klangsinnlichen Schumann Auftrag gleichermaßen die Umstände einer Musikaufführung, wie die der technischen Musikübertragung und -speicherung.

"Kein Komponist weiß soviel über Konzertsaaltüren wie ich" äußerte Mason einmal im Gespräch als er erklärte, wie er das Eindringen des Außenklangs über den Öffnungswinkel der Türen genau dosiert. Am Beginn der Fifth Music for a concert hall (1995) etwa verlassen die Instrumentalisten des Kammerensembles nacheinander den Konzertsaal, bis sie alle - mit Ausnahme der zweiten Violine, des Konzertmeisters Peter Rundel - ihre im starren Vierertakt abschnurrenden Läufe oder langsameren Repetition von Bach-Material von außen in den Saal dringen lassen. Auch die Klänge von vier der acht Lautsprecher des Mehrkanaltonbandes erreichen das Publikum nur indirekt. Das musikalische und klangliche Material ist hier ausgesprochen abwechslungsreich gestaltet. Live "gespielte" Rundfunkempfänger kommen ebenso zum Einsatz wie 16 Walkmen mit eingebauten Lautsprechern, auf die die Orchesterstimmen der 3. Sinfonie in F von C. Ph. E. Bachs aufgeteilt werden. Die Musiker geben ethnologische Betrachtungen zum Umgang mit dem Radio in der Dritten Welt ab und äußern sich über paradoxe Wahrnehmungsphänomene. Doch auch Änderungen der Beleuchtung und choreographisch anmutende Bewegungen der Musiker sind in der Partitur genau fixiert.

Die jüngsten Werke der Reihe Musics for European Concert Halls, besonders Carré, Nederlands Kamerkoor, Scheonberg Ensemble. Eighth Music for a European Concert Hall (First Music for a Theatre) (1996), das Clarinet Concerto und das 1997 im Eröffnungskonzert der Berliner Musik-Biennale uraufgeführte Trumpet Concerto (Reinhold Friedrich, Deutsches Symphonie-Orchester, SFB, 16. Berliner Bienale) lenken hingegen mit ihrer äußerst reduzierten musikalischen Faktur die Aufmerksamkeit fast ausschließlich auf akustische Phänomene. Aus dem in der Architektur verteilten Orchester dringen karge Einzeltöne, Fragmente und Akkorde, was zusammen mit der einfachen Rhythmik tatsächlich die "unmusikalische Musik" ergibt, auf die der Komponist hier zielt. Daß das Ensemble hauptsächlich im pianissimo verharrt, läßt den Konzertbesucher schließlich an seiner eigenen Wahrnehmung zweifeln. So schreibt Benedict Mason nicht mehr Musik über Musik, sondern Musik über das Hören.

Hören hören

Solche Sensibilisierung des Rezipienten auf sein eigenes Hören legt den Schritt zur Klanginstallation nahe, die bei Benedict Mason - für einen Komponisten nicht ungewöhnlich - zugleich Aufführungscharakter besitzt.

In den vier Räumen der DAAD-Galerie installierte Mason für gastronomic amorous gymnastic etc. music dreizehn Klimaanlagen, von denen einige durch ihre Präsentation auf Sockeln skulpturalen Charakter erhalten. Jede von ihnen ist mit einem Vornamen beschriftet, der auf einen Künstler oder Komponisten des gerade vergehenden Jahrhunderts zu verweisen scheint. (Steht Pierre für Boulez oder Henry, Luigi für Nono oder Russolo, Max für Neuhaus, Matthews, Reger oder Ernst?) Das jeweils charakteristisches Surren und Rumpeln der Geräte orchestriert die Galerie, wenn die Apparate - der Konzeption nach vom Besucher über Lichtschranken ausgelöst - für drei bis vier Minuten eingeschaltet werden. Zusätzlich läuft, abgesehen von solchen "Aufführungen", während der gesamten Ausstellungsdauer eine deutlich präsente, sechskanalige generative Musik aus Samples der Klimaanlagen, die in den vier Galerieräumen, auf dem Balkon und im Garten über versteckte Lautsprecher wiedergegeben wird.

Es wäre trivial, hier von einer interaktiven Installation zu sprechen. Daß der Besucher, der, um die visuellen Arbeiten Masons und die künstlerisch gestalteten Dokumentationen seiner Musics for European Concert Halls an den Wänden zu betrachten, durch die Ausstellung geht, die Klimaanlagen selbst auslöst, führt nicht zum typisch interaktiven "Ausprobieren" der Installation, zur spielerischen "Komposition" der Klänge. Vielmehr spielen die Kühlgeräte individuell für den Betrachter, sobald dieser einen der Räume betritt. Die akustische Färbung der DAAD-Galerie durch künstlerisch arrangierte Alltagsgeräusche (die zumal nicht so recht in die Jahreszeit passen wollen) ist keine Klangtapete, sie wird aufgeführt. So unternimmt Benedict Mason seine musikalische Erforschung von Raum und Wahrnehmung auch im Genre der Klanginstallation. Die Klangkunst ist ihm die Fortführung der Komposition mit anderen Mitteln.

Volker Straebel 12.97/4.98

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