"Die Wirklichkeit des Wahrnehmbaren und der Wahrnehmung ist ein und dieselbe, das Sein ist aber für sie nicht dasselbe. Ich meine z.B. den Ton in Wirklichkeit und das Gehör in Wirklichkeit; denn man kann das Gehör haben und nicht hören, und was Ton besitzt, tönt nicht immer. Wenn aber das zu hören Vermögende sich verwirklicht (wirklich tätig ist), und das zu tönen Vermögende tönt, dann stellt sich zugleich das Gehör in Wirklichkeit und der Ton in Wirklichkeit ein, von denen man das eine Hören, das andere Tönen nennen könnte. [...] Die Wirklichkeit des Tonfähigen ist also Ton oder Tönen, die des Hörfähigen Gehör oder Hören; denn zweifach ist das Gehör, und zweifach der Ton."(1)
Aristoteles betont in seiner Theorie der Sinneswahrnehmung die Möglichkeit eines Geschehens oder eines Aktes vor dessen tatsächlicher Umsetzung, seiner Verwirklichung. Dem Hören geht das Gehör, die Potenz zu hören voraus. Ebenso ist das Tönende zunächst etwas, das zu tönen vermag. Diese Befähigungen bestimmen auch das jeweilige Verhältnis von Wahrnehmung und Wahrnehmungsgegenstand. So ist das Tönende zugleich etwas zu Hörendes. Ob sich die Wahrnehmung in Gefühl, Geruch, Geschmack, Gehör oder Gesicht (2) vollzieht, liegt also bereits in ihrem Gegenstand begründet: "Jeder Sinn urteilt über die ihm eigenen Objekte und täuscht sich hierüber nicht, dass es z.B. Farbe oder Ton ist, sondern nur darüber, was der Träger der Farbe ist oder wo, oder was das Klingende ist oder wo. Solche Objekte heißen also dem Sinn eigentümliche."(3)
Die Werke von Rolf Julius verschließen sich derart zergliedernder Betrachtung. Sie widersprechen der sonst selbstverständlichen Zuordnung von Wahrnehmungsqualität und Rezeptionsweise. Die über zwei kleine auf dem Boden liegende Lautsprecher abgespielte Musik für einen gelben Raum – presto (1982) (4) färbt einen leeren Raum gelb. Im Zusammenhang mit seinem Konzert für einen gefrorenen See (1982) notiert Julius: "Mehrere Lautsprecher spielen die Musik für den gefrorenen See. Ich hoffe, dass der See selber Musik wird."(5) Solche Werktitel und Äußerungen haben ihm den Ruf eines wahrhaft synästhetischen Künstlers eingebracht, der akustische Ereignisse als visuelle oder haptische Qualitäten erlebt. Und tatsächlich bedient sich Julius im Gespräch vorzugsweise solcher Adjektive wie "rau", "rostig" oder "rund", wenn er seine Musik charakterisiert. Doch scheint sein jüngstes Werk eher vom Modell der intermodalen Wahrnehmung geprägt zu sein, wie auch vom wachsenden Interesse an künstlerisch induzierter Imagination.
Dem Synästhetiker erscheinen Reize eines Sinnenbereichs als wahrgenommene Qualitäten eines anderen. Die lange Reihe von theoretischen Systemen, die einzelnen Tonhöhen oder Intervallen bestimmte Farbwerte zuweisen, fußt auf diesen Erfahrung relativ weniger Menschen. Allgemein verbreitet hingegen ist die intermodale Wahrnehmung, die Integration mehrerer mit verschiedenen Sinnen wahrgenommenen Einzel-Informationen zu einer Wahrnehmung auf höherer Ebene. Aristoteles beschreibt diesen Umstand als sensus communis ("Gemeinsinn"): "Gemeinsame Objekte [das sind solche, die dem sensus communis zugeordnet sind] aber sind Bewegung, Ruhe, Zahl, Gestalt, Größe. Solche Objekte sind nämlich keinem [einzelnen] Sinn eigentümlich, sondern allen gemeinsam; denn eine Bewegung ist sowohl durch den Tastsinn, als auch durch das Gesicht wahrnehmbar."(6) Darüber hinaus gibt es eine Verknüpfung verschiedener Sinnesanmutungen in einem Wahrnehmungsakt: "Die Wahrnehmungssinne nehmen die spezifischen Objekte der anderen akzidentell wahr, nicht sofern sie spezifische sind, sondern sofern sie je einer sind, wenn die Wahrnehmung zugleich an demselben Objekt stattfindet, z.B. an der Galle, dass sie bitter und gelb ist; denn es bedarf keines anderen (spezifischen) Sinnes, um sich zu sagen, dass beides eines ist."(7) So entstehen neben der Wahrnehmung komplexer Eigenschaften wie beispielsweise des Gewichts eines Koffers durch die Art und Weise, wie eine Person ihn trägt und das Geräusch, das beim Absetzen entsteht, auch der Erfahrung geschuldete Verknüpfungen, wie die akzidentelle Wahrnehmung des Bitteren beim bloßen Anblick der Galle.
Rolf Julius zielt nun genau auf solche Verbindungen verschiedener Wahrnehmungsbereiche. 1998 richtete er in der gewaltigen Quergalerie des Hamburger Bahnhofs, Museum für Gegenwart in Berlin die Installation Musik für einen fast leeren Raum ein. Das etwa 80 Meter lange Tonnengewölbe der Galerie war leer bis auf vier Gruppen von je vier auf dem Boden im Quadrat angeordneten Lautsprechern, auf denen jeweils eine quadratische Glasplatte ruhte. Auf die Glasplatten siebte Julius großzügige, fast runde Flächen von rotem und schwarzem Pigment. Aus den Lautsprechern drang eine leise Musik, bestehend aus einer anhaltenden, sacht zirpend rauschenden Grundierung des Raumes und etwas tieferen Pfeifgeräuschen, die in knappen Gesten in den Vordergrund traten. Zwischen diesen Kurzmotiven standen Pausen von zehn bis über dreißig Sekunden Dauer. Die Klänge waren zu arm an tiefen Frequenzen, als dass sie die Glasscheiben in Vibration und damit die Pigmente in Bewegung versetzt hätten.
Während frühere Tonbandkompositionen von Rolf Julius mit ihren kleingliedrigen Strukturen zwar im Detail unvorhersehbar waren, über die Zeit hin aber einen verlässlich konstanten Eindruck erzeugten, tritt in der Musik für einen fast leeren Raum erstmals das Phänomen der Pause auf. Die Hintergrundfärbung verbürgt in gewohnter Weise akustische Präsenz der Installation und gesteigerte Konzentration des Besuchers, doch die Pendelklänge im Vordergrund setzen deutliche Markierungen in der Zeit und bilden charakteristische, mitunter leicht variierte Gestalten aus. Für ein Musikstück sind die Pausen zwischen ihnen sehr lang. So lang, dass die Aufmerksamkeit des Hörers abschweifen dürfte, zumal er sich nicht in einer Konzertsituation befindet, in der die Gegenwart der Musiker disziplinierend wirkt. Doch bei Julius setzen in solchen Momenten die Farben ein. In den Pausen klingt das Visuelle der Installation, und zwar nicht in einer synästhetischen Verdopplung, sondern in intermodaler Ergänzung hin zum multisensorisch erfahrenen Vorstellungsraum, den der Hörer und Betrachter in der Zeit konstituiert. Dabei verbinden sich die grundlegenden Erfahrungsmodi von Zeit- und Raumkunst: Die Pausen der Musik geben die Zeit vor, in der der Hörer sich verstärkt dem Schauen zuwenden mag, doch – wie in der Bildenden Kunst – ist die zeitliche Strukturierung der Betrachtung, wie auch ihr genauer Beginn, frei.
Für seine neuen Papierarbeiten fotografiert Rolf Julius die auf Glasscheiben gesiebten Pigmente mit einer genau parallel zur Bildebene ausgerichteten Digitalkamera, um die so gewonnenen Aufnahmen im Computer leicht zu korrigieren und dann mit einem Tintenstrahldrucker auf spezielle Kartons oder leicht strukturierte Japanpapiere zu übertragen. In der zweidimensionalen Darstellung verflüchtigt sich die charakteristische Materialität des Pigmentstaubs, es bleibt aber der Eindruck von in Abhängigkeit von der fotografierten Vorlage variierenden Farbdichten. Schwarz spielt ins Anthrazit, Rot ins Orange. Auch die Formen, fast kreisrunde oder unregelmäßig ovale Flächen mit ihren unterschiedlich weich verlaufenden Rändern, oder in jüngster Zeit auch klarer umgrenzte Quadrate und Rechtecke, bei denen entsprechend geformte Glasscheiben vollständig mit Pigment bedeckt sind, bleiben auf dem Papier erhalten. Was aber fehlt, ist die Musik. Die Klänge, die aus den Lautsprechern unter den pigmentierten Glasscheiben drangen und mit den Farben verschmolzen, bleiben akustisch stumm.
Dennoch evozieren diese Blätter auditive Anmutungen. Einzeln gerahmt und in mehreren Reihen übereinander blockhaft an der Wand präsentiert, mitunter durchsetzt von Blättern, auf denen in großer Typografie kurze Begriffe oder Fragmente stehen (Schwarz hört Rot zu, 1998), wirken sie wie ein Depot von Klängen, besonders wenn ihr gemeinsamer Titel sie als Partitur erscheinen lässt (Piano Concerto, 1998). Die nur auf den ersten Blick monochromen, tatsächlich aber intern strukturierten und an ihren Rändern charakteristisch auslaufenden roten oder schwarzen Farb-"Flecke" sind wie Klänge hart oder weich, leicht oder dicht, rund, bewegt, ruhig oder machtvoll. Der Betrachter entwickelt an ihnen eine ästhetische Vorstellung, wie sie aus einer intermodalen Wahrnehmung erwachsen sein könnte. Doch die Ebene des Gehörten wird von ihm, der er als "zu hören Vermögender" die Potenz zu hören in sich trägt, nur imaginiert. Von den drei von Aristoteles beschriebenen Ebenen der Wahrnehmung vollzieht der Betrachter die erste (Möglichkeit zu hören) und erschließt sich über die dritte (Wahrgenommenes ist akzidentell, sensus communis) die zweite, die in Wirklichkeit vollzogene, das aktuelle Hören.(8) So gelingt in der Julius' neuen Werken eigenen ästhetischen Situation die abstrakte Erfahrung des abwesenden Klanges – wir hören, nicht weil Tönendes ist, sondern weil zu hören wir vermögen.
Volker Straebel
(1) Aristoteles, Über die Seele 425b, 426a
(2) Diese Alliteration bietet Hegel in der Einteilung des Systems der einzelnen Künste im dritten Teil seiner Ästhetik.
(3) Aristoteles, Über die Seele 418a
(4) vgl. Rolf Julius. Small Music (grau), hrsg. v. Bernd Schulz und Hans Gercke, Heidelberg 1995, S.17
(5) ibid. S.38
(6) Aristoteles, Über die Seele 418a
(7) ibid. 425a/b
(8) vgl. ibid. 418a