Es war ein Zufall, daß der britische Naturforscher B. Higgens 1777 bei der Vorführung des populären Experimentes, durch die kontrollierte Verbrennung von Wasserstoff kondensierendes Wasser zu erzeugen, auf das Phänomen der Singenden Flammen stieß. In den zylindrischen Glasgefäßen, die er, um den Wasserdampf aufzufangen, über die Flamme hielt, erklangen überraschend "verschiedene liebliche Töne, abhängig von der Weite, Länge und Dicke der Gläser oder versiegelten Röhren"(1). Der Versuch muß in den Experimentierzirkeln und Laboratorien des ausgehenden 18. Jahrhunderts weite Verbreitung gefunden haben, denn bereits 1795 verwies Ernst Chaldni in der Berliner Gesellschaft naturforschender Freunde auf allgemeine Überlegungen zum Bau einer "Feuer-Harmonika".(2) Warum aber man ein solch vergleichsweise kompliziertes Instrument neu konstruieren solle, obwohl die herkömmliche Pfeifenorgel ihre Klänge auf nicht wesentlich andere Art zu erzeugen scheint, verschweigen die frühen Schriften über Singende Flammen. Ihre Autoren sind ganz in der positivistischen Beschreibung der Experimentalstudien gefangen und erwähnen nicht die Faszination, die wahrscheinlich hinter diesen steht: daß die Klangerzeugung nicht wie bei allen anderen Blasinstrumenten unsichtbar bleibt, sondern die von je her angenommene strukturelle Verbindung von seh- und hörbarer Welt einlöst. Spätere Forschungen sollten tatsächlich belegen, daß die Gasflamme, die nicht unbedingt von Wasserstoff herrühren muß, sich in Abhängigkeit von der in der Glasröhre etablierten stehenden Welle bewegt. Die Auslenkung der Flamme ist jedoch gering und geschieht viel zu rasch, als daß sie ohne technische Hilfsmittel, etwa einem Rotationsspiegel, wahrgenommen werden könnte.(3)
1873 gelang Frédéric Kastner der Bau eines Musikinstruments aus Singenden Flammen. Sein der Académie des Sciences in Paris vorgestelltes Pyrophon bedient sich der von dem Konstrukteur entdeckten "Interferenz der Singenden Flammen"(4) und steuert von einem Orgeltisch aus zwei oder mehr Wasserstoffgasbrenner pro Glasröhre, die, wenn sie nahe beieinander sind, den Ton auslöschen, ihn aber erklingen lassen, wenn ihre Flammen weiter entfernt brennen. Mit jeder Taste des mechanischen Spieltisches korrespondiert eine auf diese Weise ein- oder auszuschaltende Glasröhre.
"Von dem Klang des Pyrophons kann wahrhaft gesagt werden, daß er dem Klang der menschlichen Stimme und dem der Æolsharfe ähnelt; zur gleichen Zeit lieblich, kraftvoll, geschmackvoll und brillant; [...] wie ein menschliches leidenschaftliches Flüstern, als ein Echo der inwendigen Schwingungen der Seele, etwas geheimnisvoll und undefinierbar; und im übrigen besitzt er melancholischen Charakter, was für alle natürlichen Harmonien charakteristisch zu sein scheint."(5) Bei seiner Präsentation des Pyrophons vor der Society of Arts in London pries Henry Dunant 1875 nicht nur die klanglichen Eigenschaften des neuen Instruments, er betonte auch dessen naturphilosophischen Hintergrund: "Hiermit ist die bescheidene harmonica chimique, das lumen philosophicum der Naturforscher, im Pyrophon zum Musikinstrument herangereift; dieses erfreuliche Ergebnis stützt die Überlegung, daß die Untersuchung der Natur des Klanges den Menschen, wenn schon nicht wirklich zur Erfindung der Musik, so doch wenigstens dahin führen wird, diese Kunst mit Mitteln auszustatten, die ihre Macht stärken."(6) Die leider stark verstimmte Flammenorgel sollte dem Londoner Publikum nicht nur seine Nationalhymne zu Gehör bringen, sie sollte die Musik überhaupt neu begründen. Daß Klang aus Licht gewonnen wurde, verhieß eine zuvor unerreichte Annäherung an das kosmologische Tönen der Natur selbst.
Von solchen Einheitsvorstellungen ging auch Andreas Oldörp aus, als er 1988 im Röhrenbunker unter dem Hans-Albers-Platz in Hamburg seine Installation "Singende Flammen" einrichtete. Angeregt von einer Abbildung des nach Kastners Tod vergessenen Pyrophons(7) fixierte Oldörp neun Singende Flammen an einer Längswand des schmalen, 53m langen Tunnels, der einzig von dem nur kerzenhellen Licht der Gasflammen erleuchtet wurde. "Licht und Klang aus einer Quelle"(8) zu erhalten, erschien dem Bildenden Künstler die schlüssige Lösung seiner bereits an der Hamburger Kunsthochschule begonnenen intermedialen Arbeit zu sein. Dabei etablierten die durch unterschiedliche Röhrendurchmesser und leicht verschiedene Flammenpositionen auf Obertonverdopplung und Interferenzen genau gestimmten Singenden Flammen eine "Akustische Innenarchitektur" aus stehenden Wellen im Raum. Was im 19. Jahrhundert in einen traditionellen Musikbegriff integriert werden mußte, kann Oldörp nach der Erfahrung von LaMonte Young und Max Neuhaus für das neue Genre der Klanginstallation nutzen.
In den vergangenen zehn Jahren hat Oldörp an den unterschiedlichsten Orten sein neues Instrumentarium eingesetzt. Bis zu 3,26m lange Glasröhren erzeugen mächtige, tiefe Klänge von körperlicher Präsenz, unterschiedliche Gase und Brennertypen erlauben es, verschiedene Obertöne anzusprechen und die jeweils gewünschte Leuchtwirkung zu erzielen. Die äußerst empfindlichen Klangerzeuger von skulpturalem Charakter, die für die verschiedenen Orte jeweils individuell geschaffen, aufeinander abgestimmt (bevorzugte Intervalle sind kleine Sekunden, Quinten, Oktaven und ihre mikrotonalen Abweichungen) und räumlich positioniert werden, reagieren bereits auf geringe Schwankungen von Luftdruck und -feuchtigkeit. So sind die Installationen von Andreas Oldörp nicht nur in Bezug auf den Ort flexibel, den ein Rezipient im Raum einnimmt, sondern auch im Hinblick auf die während einer Ausstellung verstreichenden Zeit. Der übliche Rahmen musikalischen Denkens wird weit überschritten.
Die "FireOrgan", die der Deutsch-Amerikaner Trimpin im vergangenen Jahr in den kleinen Donau-Tempel in Donaueschingen hängte, scheint sich mit ihrer automatisch ablaufenden Tonfolge wiederum an dem Singenden Kronleuchter zu orientieren, den Frédérik Kastner mit Singenden Flammen ausstattete. Konnten diese vermittels einer elektromagnetischen Vorrichtung von einer in einem anderen Raum verborgenen Tastatur gespielt werden(9), so verwendet Trimpin, wie in seinen anderen Installationen mit im Raum verteilten Klangkörpern, eine MIDI-Steuerung(10). Alvin Lucier schließlich bringt in der Musikperformance "Tyndall Orchestrations" für Sänger, Spieler und Tänzer, eine schallempfindliche Flamme, Bunsenbrenner, Glaszylinder und Zuspielband (1976) Singende Flammen auf die Bühne. Angeregt von den Experimenten John Tyndalls in den 1860er Jahren(11) entwarf Lucier eine Verbalpartitur, die dazu anleitet, den Versuchsaufbau einer Singenden Flamme akustisch zu erforschen und eine Bunsenbrennerflamme durch Schalleinwirkungen zum Flackern zu bringen. Hier schließt sich der Kreis. Licht wird Klang und Klang formt Licht.
Volker Straebel 99