Die minimal music, zu deren Begründern und bedeutendsten Vertretern Steve Reich zählt, hat es kaum zehn Jahre lang gegeben. Als der Begriff 1974 zur Beschreibung der Werke von Reich (*1936), La Monte Young (*1935), Terry Riley (*1935) und Philip Glass (*1937) von dem später selbst diesem Stil nahestehenden und für seine Filmmusiken bekannt gewordenen Komponisten Michael Nyman geprägt wurde(1), begann sich bereits die Abkehr seiner Protagonisten von streng minimalistischen Konzepten abzuzeichnen. Die in dieser Zeit einsetzende Hinwendung zu weniger prozeßhaften Formen und farbigerer Harmonik, etwa in Reichs Music for Eighteen Musicians (1974-76) oder der Oper Einstein On The Beach von Philip Glass und Robert Wilson (1976), leitet eigentlich den Beginn des post-minimalism ein, zu dem wiederum gewöhnlich erst nach 1940 geborene Komponisten wie Daniel Lentz oder William Duckworth gerechnet werden(2). So scheint im allgemeinen Sprachgebrauch der Begriff minimal music unglücklicherweise weniger phänomenologisch mit einer eng begrenzten kompositionsgeschichtlichen Strömung als vielmehr biographisch mit dem Werk deren Begründer verbunden zu sein. Ein Umstand, dessen man sich auch bei der Betrachtung früher und sozusagen klassischer Werke der minimal music bewußt sein sollte.(3)
Nach Studien in Philosophie, Perkussion und Komposition in seiner Heimatstadt New York und am Mills College in Oakland, Kalifornien bei Darius Milhaud und Luciano Berio arbeitete Steve Reich von 1963 bis 1965 im Umfeld des von Morton Subotnick gegründeten San Francisco Tape Music Center, einem bedeutenden Begegnungsort für Vertreter innovativer Musik an der nordamerikanischen Westküste. Seine Experimente mit Tonbandschleifen konkreter Klänge und seine Mitwirkung an der Uraufführung von Terry Rileys Pattern-Komposition In C (1964) führten ihn 1965 zur ersten eigenen minimalistischen Tonbandkomposition It's Gonna Rain. Hier wird die kurze Aufnahme eines farbigen Straßenpredigers in einer Tonbandschleife zunächst zu einer lang anhaltenden Wiederholung überführt. Mit der Zeit verlagert sich die Aufmerksamkeit des Hörers fort von dem Inhalt des Textes und hin auf Sprachrhythmus und -melodie des Redners. Die Semantik der Sprache verschwindet hinter den materiellen Details ihrer Artikulation.
Ausgehend von dieser Erfahrung versuchte Reich mit zwei Tonbandschleifen gleichen Inhalts, die er jedoch versetzt startete, eine Art "Konkreten Kontrapunkt", eine kanonische Struktur aus konkreten Klängen zu etablieren, und damit ein wesentliches Kompositionsverfahren seiner Studienwerke in die Tonbandmusik zu übertragen. Dabei entdeckte er eher zufällig, daß er die interessantesten Ergebnisse erzielte, wenn er zwei geringfügig unterschiedlich lange Bandschleifen gleichen Inhalts im unisono startete, und die Klänge sich mit jeder Wiederholung langsam immer weiter auseinander bewegen ließ. So wurde It's Gonna Rain das erste Werk, das sich des phase shifting bediente.
Nach seiner Rückkehr nach New York 1965 und der Komposition zwei weiterer Tonbandstücke im Jahr darauf, Come Out und Melodica, machte sich Reich daran, das maschinelle Verfahren des phase shifting auf von Musikern live gespielte Instrumentalwerke zu übertragen: "Ende 1966 nahm ich schließlich ein kurzes sich wiederholendes melodisches Pattern am Klavier auf, machte eine Tonbandschleife von diesem Pattern und versuchte dann, selbst gegen diese Schleife zu spielen, genau so als wäre ich ein zweites Tonbandgerät. Zu meiner Überraschung fand ich heraus, daß ich, obgleich mir die Perfektion der Maschine fehlte, mich dieser ziemlich gut annähern konnte, während ich eine neue und außerordentlich befriedigende Art des Spielens genoß, das sowohl zuvor ausgearbeitet war (ich wußte, ich würde im unisono beginnen, langsam um einen Schlag überholen, so bleiben, dann um einen weiteren, und so weiter bis ich wieder im unisono sein würde), und trotzdem frei davon, einer Notation zu folgen, was mir erlaubte, während des Spielens vom Hören völlig absorbiert zu sein."(4)
Daraus entstand 1967 Piano Phase für zwei Klaviere (oder Marimba Phase für zwei Marimbas). Dessen Ausgangspattern besteht aus zwölf im regelmäßigen Sechzehntelpuls ablaufenden Tönen, wobei die mit der linken Hand gespielten Achtelhebungen zwei identische Dreitongruppen e-h-d bilden. Die ungeraden Sechzentel pendeln zwischen fis und cis hin und her, so daß die zwei Dreitongruppen e-h-d abwechselnd mit den Tonfolgen fis-cis-fis und cis-fis-cis verbunden werden. Das das gesamte Stück beherrschende Verfahren der allmählichen Verschiebung immer gleicher Patterns zueinander dringt also bis in die motivische Gestaltung des äußerst knappen musikalischen Grundmaterials.
Der erste Pianist wiederholt nun stetig dieses Ausgangspattern, während der zweite zunächst im unisono hinzutritt, dann in leichtem accelerando den ersten um ein Sechzehntel überholt, eine Weile im gleichen Tempo verweilt, erneut beschleunigt, und so fort, bis nach zwölfmaligem phase shifting beide Spieler wieder im unisono vereint sind. Danach wird das Grundpattern auf acht Töne verkürzt und wiederum einem phase shifting-Zyklus unterworfen, bei dem im zweiten Klavier jedoch ein anderes, wenn auch strukturell nah verwandtes Pattern erklingt. Dessen mittlere vier Töne bilden schließlich das Pattern a-h-d-e für den letzten, vierteiligen Zyklus eines phase shifting.
Obwohl das in Piano Phase gespielte musikalische Material minimalistisch einfach gestaltet ist, ergeben sich für den Hörer ausgesprochen komplexe Klangverläufe. Die in verschiedenen Phasen überlagerten Patterns erzeugen nämlich jeweils unterschiedliche Summationsklänge (resulting patterns), deren Rezeption psychoakustischen Gesetzmäßigkeiten gehorcht. Damit löst sich, wie Reich in seinem ästhetischen Statement Music as a Gradual Process 1968 forderte, die Musik von den Intentionen des Komponisten und der Interpreten, und die Klänge "ergeben sich aus akustischen Gründen".(5) Komponiert werden nicht mehr die resultierenden Klänge, sondern der gradual process, dem sie entspringen. Um sicher zu sein, daß dieser beim Hören tatsächlich nachvollzogen werden kann, soll er langsam und allmählich (gradual) ablaufen: "Woran ich interessiert bin sind ein kompositorischer Prozeß und eine klingende Musik, die ein und das gleiche sind."(6)
Solche konzeptionelle Konzentration des musikalischen Werkes auf die strukturell einfache Weise seiner Erzeugung zeigt sich besonders in Reichs Pendulum Music für Mikrophone, Verstärker, Lautsprecher und Aufführende (1968). Hier sind drei, vier oder mehr Mikrophone jeweils an ihrem Kabel über einem Lautsprecher hängend angeordnet. Die Verstärker sind so eingestellt, daß in dieser Ruheposition ein Feedback entsteht, das aber verstummt, wenn die Mikrophone von den ihnen zugeordneten Lautsprechern fortgezogen werden. Dies tun die Performer bei einer Aufführung. Sie lenken die von Mikrophon und Kabel gebildeten Pendel aus und beginnen alle gleichzeitig, sie schwingen zu lassen. So entsteht eine Folge von Feedback-Klängen bis die Mikrophone schließlich über den Lautsprechern zur Ruhe kommen und die Verstärker ausgeschaltet werden.
Die Verbalpartitur von Pendulum Music enthält noch einige technische Angaben, beschreibt aber nicht weiter das vom Komponisten gewünschte musikalische Ergebnis. Wie in einem physikalischen Experiment sind nur der Versuchsaufbau und die Ausgangsparameter gegeben, die zwar einen bestimmten Verlauf erwarten lassen, ihn aber nicht bis ins Detail bestimmen. Jede Aufführung ist daher einmalig und nicht reproduzierbar. Anders als in Piano Phase und den Tonbandstücken wurde noch nicht einmal die Änderung der Phasenverhältnisse komponiert. Diese ergibt sich aus den Pendellängen und den Eigenschaften der Aufhängungen und ist von den Performern nach Abschluß des Aufbaus nicht mehr zu beeinflussen. Haben diese ersteinmal die Mikrophone ausgelenkt und losgelassen, bleibt ihnen keinen Einfluß mehr auf das Geschehen und sie werden selbst zu Zuhörern: "Wenn der Prozeß einmal eingerichtet und gestartet ist, läuft er ganz von selbst."(7) Ganz ähnlich wie John Cage schreibt Reich in dieser Zeit nicht Stücke, um eine klangliche oder melodische Idee zu fixieren, sondern umgekehrt um zu hören, wie sich ein zuvor entworfener Prozeß in der klanglichen Umsetzung darstellt.
Zu diesen konzeptionellen, in ihrer Einfachheit La Monte Youngs Fluxus-Stücken nahestehenden Partituren gehört Slow Motion Sound (Zeitlupenklang) von 1967. Sie besteht aus nur einem Satz: "Verlangsame ganz allmählich einen aufgezeichneten Klang bis auf ein Vielfaches seiner ursprünglichen Länge ohne seine Tonhöhe oder seine Klangfarbe im geringsten zu ändern."(8) Obgleich Reich dieses Stück nie auf Tonband realisierte - zur Zeit seiner Entstehung fehlten die technischen Möglichkeiten und später verlor Reich das Interesse an elektroakustischer Musik - blieb er von der Idee einer sich langsam steigernden, extreme Ausmaße annehmenden Augmentation fasziniert. Die 1970 entstandene Komposition Four Organs läßt sich als instrumentale Umsetzung dieser Idee verstehen. Über einen durchgehenden Achtelpuls der Maracas spielen vier Elektrische Orgeln den auf zwei Oktaven gespreizten Cluster d-e-fis-gis-a-h (mit Baßton e). Zunächst erklingt der Akkord in kurzen, von Pausen getrennten Achteln, dann franst er langsam an seinen Rändern aus: einzelne Töne klingen nach, dann auch vor dem vollen Akkord, der im Laufe des Stückes immer länger wird. So augmentiert Reich den ehemals kurze Akkord selbst, wie auch das stufenweise Auf- und Abbauen des Gesamtklanges in zunehmendem Maße, wobei jede neue durch Verlängerung gebildete Struktureinheit wiederholt wird. Wenn sich in der 43. Einheit der Abbau des Klanges mit dem Aufbau des Folgeklanges überschneidet, bricht das Werk ab - würde der Prozeß weitergehen, bliebe der Akkord ständig ausgehalten und würde nur in der Lautstärke seiner Einzeltöne variieren, solange nicht alle Orgeln unisono spielen.
Nach seiner post-minimalistischen Wende verglich Reich die Anwendung extremer Augmentation in Music for 18 Musicians (1974-76) mit der Organumtechnik Perotins im 12. Jahrhundert(9) und bezog später, nach der Komposition des an mittelalterlichen Satzweisen orientierten Proverb (1995), auch sein frühes Four Organs auf den Meister von Notre-Dame(10). In den Selbstäußerungen Reichs aus der Entstehungszeit des Orgelstücks fehlt jedoch dieser Vergleich. Diesen zufolge wies Four Organs mit der prozessual zunehmenden Augmentation (Perotin hatte zwar einzelne Choralausschnitte extrem gespreizt, doch niemals diese Spreizung selbst zum eigentlichen Gegenstand der Komposition gemacht) einen Weg aus der Fixierung auf phase shifting-Verläufe. Ein musikhistorischer Kommentar scheint damals nicht beabsichtigt gewesen zu sein.
1968 hatte Reich eine Schaltung entwickeln lassen, das Phase Shifting Pulse Gate, mit der beliebige Eingangssignale auf live-elektronischem Wege einem technisch präzisen phase shifting unterworfen werden konnten. Die bei Konzerten empfundene Abhängigkeit von diesem Hilfsmittel (Pulse Music, Four Log Drums, beide 1969) ließ ihn jedoch rasch zur rein instrumentalen Musik zurückkehren. Four Organs verzichtete ganz auf das bis dahin dominierende phase shifting und in Phase Patterns für vier Elektronische Orgeln, ebenfalls von 1970, spielt dieses Verfahren keine wirklich zentrale Rolle mehr. Wie der Plural im Titel bereits andeutet, treten hier eine Vielzahl verschiedener Patterns in Erscheinung, die Reich übrigens zusammen mit der Uraufführungsbesetzung erarbeitet hat.(11) Da das Stück somit mehr ist als ein von Beginn bis Ende gleichbleibender, minimalistisch klarer Prozeß, sondern stattdessen motivische Brüche aufweist, läßt es bereits post-minimalistisches Komponieren ahnen. Auch die Technik, die Orgeln wie Perkussioninstrumente spielen zu lassen - Reich verwendet den "Parafiddle" links-rechts-links-links-rechts-links-rechts-rechts - verweist bereits auf spätere Entwicklungen des Komponisten. Ein Jahr später sollte er nach Ghana reisen, um afrikanisches Trommeln zu studieren, und im über einstündigen Drumming für Perkussionsensemble (1971) wechseln Patterns langsam miteinander ab, statt durch aus Phasenverschiebung entstehenden Summationsklängen strukturell verbunden zu sein. Die strenge minimal music ging mit Phase Patterns zu Ende.
Volker Straebel 98