1949 verließen zwei Männer frühzeitig ein Konzert in New York. Beide waren so beeindruckt von Weberns Symphonie Op. 21, daß sie danach keine andere Musik mehr hören wollten: Morton Feldman und John Cage. Sie trafen sich auf der Treppe.
Der 23jährige Feldman studierte damals Klavier und Komposition bei europäischen Emigranten, zuletzt bei Stefan Wolpe. Nebenbei arbeitete er in den wechselnden Textil- und Wäschereigeschäften seiner russisch-jüdischen Eltern, die als Kinder nach Brooklyn gebracht worden waren. In einem unveröffentlichten Text beschrieb Feldman später die Eifersucht des Vaters auf den Sohn, dem intellektuelle Gebiete offenstanden, die jenem verschlossen geblieben waren. Und in Anspielung auf die Schilderung seiner Stellung im jüdischen Familienbetrieb fuhr er fort: "Klingt es wie Kafka? Es ist Kafka."
Die Begegnung mit Cage geriet so zum befreienden Ausweg. Feldman kam in befruchtenden Kontakt mit der New Yorker Künstlerscene und schloß Freundschaft mit Franz Kline, Willem de Kooning, Mark Rothko, Philip Guston, Cy Twombly und dem Autor Frank O'Hara. 1950 schließlich vervollständigten Earl Brown und Christian Wolff das Quartett der später so genannten "New York School", deren Werke seit 1951 regelmäßig von David Tudor aufgeführt wurden.
Seine von der europäischen Vorkriegsavantgarde geprägten ersten Kompositionen ließ Feldman rasch hinter sich. 1950 überraschte er den 14 Jahre älteren Mentor Cage mit der ersten graphischen Partitur, der knapp dreiminütigen Projection 1 für Cello solo. Ihre in den folgenden 15 Jahren immer wieder von Feldman verwendete graph paper notation spezifiziert weder Melodie noch Rhythmus. Drei übereinanderliegende Kästchenreihen korrespondieren mit den nicht genau festgelegten Lagen hoch, mittel und tief des Instrumentes. Eine Spalte entspricht einer vorgegebenen Zeiteinheit und die Ziffern in den Kästchen geben an, wie viele Töne in der entsprechenden Lage irgendwann im Laufe dieses Zeitraums gespielt werden sollen.
Ein Skandal für Cage in zweifacher Hinsicht. Einerseits zieht sich hier in bislang ungeahnter Deutlichkeit der Komponist mit seinen subjektiven Vorlieben und Abneigungen aus dem musikalischen Werk zurück. Cage sollte erst im gleichen Jahr beginnen, diesem schon früher von ihm aus asiatischen Philosophien abgeleitetem Ziel sich anzunähern, indem er den dritten Satz seines Konzertes für Präpariertes Klavier und Orchester (1950/51) mittels Befragen des chinesischen Orakelbuches I Ging organisierte. Andererseits können Aufführungen des gleichen Werkes höchst unterschiedlich klingen, ja ein Hörer könnte sogar Schwierigkeiten haben, von verschiedenen Aufführungen auf ein ihnen gemeinsam zugrundeliegendes Werk zu schließen. Der Interpret wird aus der Sicht des Komponisten zum Träger des Zufalls - auch diese Herangehensweise sollte Cage erst später verfolgen, wenn dann allerdings auch mit radikalerer Konsequenz.
Stets, und seit den 70er Jahren ausschließlich, hat Feldman auch herkömmlich notierte Musik geschrieben. Seine Stücke tragen oft Spielanweisungen wie "sehr leise" oder "Langsam. So leise wie möglich". Mit Ausnahme weniger überraschender Fortissimo-Stellen, die in den späteren Jahren jedoch verschwinden, ist Feldmans Musik zerbrechlich zart. Wenige ausgehörte Akkorde werden lange wiederholt oder geringfügig variiert. Earle Brown beschrieb einmal im Gespräch Feldman als den Romantiker der Gruppe, der stundenlang am Klavier saß und Akkorde suchte - eine Kompositionshaltung, wie sie sich schwerlich weiter von der Cages entfernt denken läßt.
So liegt der Verdacht nahe, daß Cage in den frühen 50er Jahren Feldmans Kompositionen als Prüfsteine eigener ästhetischer Entwicklung vereinnahmte. In seiner Lecture on Something von 1951 sagte er etwa in Bezug auf Feldmans graph paper notation: "Er wandelte die Verantwortung des Komponisten vom Erstellen zum Akzeptieren" (der vom Interpreten erzeugten Klänge). Doch antwortete Feldman nach diesem Vortrag auf die Frage, ob er dem über seine Arbeit Gesagtem zustimmen könne oder nicht "That's not me; that's John."
Zehn Jahre später konstatierte Cage, daß während sein Komponieren sich ständig ändere, das Feldmans sich eher zu entwickeln scheine. Dessen Musik sei stets schön, manchmal vielleicht zu schön. Und sei diese Schönheit in der Zeit der graph paper notation heroisch gewesen, so sei sie jetzt eher erotisch. Eine Kategorie, die es für die Forschung erst noch zu entdecken gilt.
Die Geschichte der gegenseitigen Beeinflussung von Morton Feldman und John Cage hat die Musikwissenschaft noch nicht geschrieben. Bis in die späten 70er Jahre hinein stand Feldman im Schatten Cages, und obgleich seit etwa zehn Jahren die Publikation von Analysen einzelner Kompositionen zunimmt, wurde doch eine umfassende Monographie zu seinem Werk noch nicht veröffentlicht.
Statt dessen nimmt die Präsens Feldmans auf dem Tonträgermarkt immer mehr zu. Vor allem die oft mehrstündigen Kompositionen der 80er Jahre für verschiedene Kammerbesetzungen liegen auf CD vor oder werden in Konzerten zur Aufführung gebracht. Der Grund hierfür mag in der oberflächlich leicht erscheinenden Rezipierbarkeit dieser Musik ebenso liegen wie in der Erhöhung Feldmans zu einer Kultgestalt der Neuen Musik.
Schließlich messen seine Apologeten Feldmans Werk wie vielleicht sonst nur noch die Musik Giacinto Scelsis oder Arvo Pärts in metaphysischen Größen. So sah etwa Heinz-Klaus Metzger in ihm die "Exploration jenes Zwischenbereiches (...) zwischen Etwas und Nichts", die endlich die Ontologie insgesamt aus den Angeln hebe, da sie - wie von Hegel bereits formuliert - die Differenz von Sein und Nicht-Sein überwinde. Und der Komponist Walter Zimmermann konstatierte wie selbstverständlich "Der alttestamentarische Streit zwischen Moses und Aron um das Vermitteln der Wahrheit durch Bilder (...) steht im Zentrum der Ästhetik Morton Feldmans." Selbst die ausdrückliche Feststellung Feldmans, seine Kompositionen folgten nicht kabbalistischer Zahlensymbolik, ließen Metzger nicht an dieser These zweifeln, schließlich bräuchte dem Urheber seine Vorgehensweise nicht bewußt zu sein.
Die Bewunderer des Hörbaren an Feldmans Musik tun dem Werk oft in anderer Weise Gewalt an. Konzerte des Spätwerks tragen oft Züge von Versammlungen einer kleinen eingeschworenen Gemeinde, die mit geschlossenen Augen, in meditativer Haltung - New Age Veranstaltungen vielleicht nicht unähnlich - dem Geschehen folgt, um nach dessen Ende dem Kritiker Vorhaltungen wegen seines kratzenden Bleistiftes zu machen. Dabei liegt die Kunst Feldmans nur zum Teil im hörend Erfahrbaren. 1983 bemerkt Feldman in einem Interview: "Ich bedaure, daß es einer der Fehler meiner Musik sein könnte, daß sie unglücklicherweise wie Musik klingt (...). Zur gleichen Zeit meine ich, ihre Gefahren sind, daß sie nichts mit Musik zu tun hat."
Bereits das Notieren seiner Musik war für Feldman ein performanceartiges Geschehen. Er verwendete Tinte, um später nichts ändern oder auslöschen zu können, und oftmals geht der Beginn einer Partiturseite einher mit der Einführung einer neuen musikalischen Gestalt oder einer Veränderung der Struktur. Auch ist die rhythmische Notation oftmals komplizierter als notwendig, wohl um den Interpreten zum nicht allzu genauen Spiel anzuleiten. Und manche Figur mag deshalb von ihrem Auftreten einige Seiten zuvor verschieden sein, weil der Komponist es vorzog, sie ungenau zu erinnern, statt zurückzublättern.
Morton Feldman starb am 3. September 1987. Heute [12. Jan. 1996] wäre er 70 Jahre alt geworden.
Volker Straebel 1.96