Die kompositorische Entwicklung, die John Cage in den 1950er Jahren nahm, ließe sich beschreiben als die vielgestalte Untersuchung seines Konzeptes der Stille - nicht der Abwesenheit von Klang und Geräusch, sondern der Abwesenheit von persönlicher Intention, der Offenheit von Komponist und Hörer für unkalkulierbare akustische Phänomene. Dass die Aufgabe der Musik es sei, das Bewusstsein auszunüchtern und zu beruhigen ("to sober and quiet the mind"), hat Cage in diesem Zusammenhang immer wieder ausgeführt. Das Komponieren von den persönlichen Vorlieben und Abneigungen, dem "Geschmack" des Komponisten zu befreien, erreichte er dabei auf unterschiedliche Weise: Mit der Verbindung von seriellen Techniken und Zufallsoperationen wurde Abfolge und Kombination vorgeprägten Materials dem direkten Einfluss des Komponisten entzogen (z.B. Music of Changes für Klavier, 1952). Das klingende Material selbst blieb bei Stücken für Radios (Imaginary Landscape No.4, 1951) oder Schallplatten (Imaginary Landscape No.5, 1952) unbestimmt. Ein Extrem dieser Offenheit für klingendes Material ist das Stille-Stück 4'33" von 1952.
Die Ableitung von Klängen aus graphischen Vorlagen ist letztlich nur eine Variante der Zufallsoperationen mittels des chinesischen Orakelbuches I-Ging. Eine neue Ebene erreichte Cage jedoch mit der Anlage solcher Stücke, die in beliebiger Auswahl und Reihenfolge auch simultan aufgeführt werden können (Music for Piano, Time-Length Pieces, beide 1953-56, Winter Music für 1-20 Pianisten, 1957). Die Gleichzeitigkeit musikalischen Ereignisse ist hier - auch für den Komponisten - unvorhersehbar, sie ereignet sich erst im Augenblick der Darbietung. Es können sich außerordentlich dichte Strukturen ergeben, die der allgemeinen Vorstellung von "Stille" entgegenstehen mögen. Eine Stille, die in der Offenheit des Hörers liegt und der regressiven Erfüllung von Hörerwartungen Hohn spricht, erfüllen sie hingegen durchaus.
Schließlich entwarf Cage Partituren, die selbst nicht unmittelbar aufgeführt werden können, sondern der kompositorischen Realisation bedürfen. Der Interpret ist hier nicht allein Musiker, der musikalische Elemente zum Klingen bringt, sondern auch Komponist, der nach einem von Cage etablierten Verfahren die Wahl und Anordnung dieser musikalischen Elemente überhaupt erst vollzieht. Die Klavierstimme des Concert for Piano and Orchestra (1957/58) weist in diese Richtung, die graphische Partitur von Fontana Mix (1958) führt dieses Konzept erstmals konsequent aus. Der Autor John Cage zieht sich immer weiter aus der tatsächlichen Darbietung zurück, er stellt nur noch globale Regeln bereit, nach denen andere musikalische Zusammenhänge überhaupt erst erzeugen.
Das Partitur-Material von Fontana Mix besteht aus zehn Seiten mit jeweils sechs unterschiedlich gezeichneten geschwungenen Linien und zehn Transparent-Folien mit frei angeordneten Punkten. Um nun ein musikalisches Ereignis zu bestimmen legt man eine Punkt-Folie über eine der Linien-Seiten und darüber ein Raster aus 20 x 100 Kästchen. Mit einer Linie verbindet man nun einen Punkt innerhalb des Rasters mit einem Punkt außerhalb des Rasters. Die Kästchen, an denen die Linie in das Raster eintritt respektive austritt, markieren Anfangs- und Endpunkt eines time bracket, innerhalb dessen das Ereignis stattfindet (z.B. beginnt es frühestens bei 0'32" und endet spätestens bei 0'50"). Die Schnittpunkte der Verbindungslinie mit den sechs geschwungenen Linien innerhalb des Rasters ergeben Messwerte für sechs verschiedene Parameter auf einer Skala von 1-20. Diese Parameter können frei zugeordnet werden, z.B. Lautstärke, Klangfarbe, Tonhöhe, und so fort. Wie diese musikalischen Ereignisse aus den Messwerten der Partitur im Einzelnen bestimmt werden ist ebenso frei wie ihre Abfolge oder Überlagerung.
Die Besetzungsangabe von Fontana Mix lautet "Stimmen, die mit Hilfe der Partitur vorbereitet werden, für jede beliebige Anzahl von Spuren von Magnetband oder für jede beliebige Anzahl von Spielern oder jede Art und Anzahl von Instrumenten". Cage benutze die Partitur im Winter 1958/59 um am Elektronischen Studio in Mailand zwei Stereo-Bänder Elektronischer Musik zu erstellen. (Der Titel bezieht sich übrigens auf seine Wirtin in Mailand, Signora Fontana). Später fertigte er weitere komponierte Realisationen von Fontana Mix an: Aria für Stimme (1958), Water Walk und Sounds of Venice (beide 1959, Stücke für Solo-Performer), Theater Piece für 1 bis 8 Performer (1960) und WBAI (1960), eine Partitur zur Aussteuerung elektronischer Geräte. Es handelt sich um eigenständige Stücke, die unmittelbar aufgeführt werden können (Aria) oder ihrerseits Vorlagen für Ausarbeitungen bilden (Theatre Piece).
Im Auftrag der MaerzMusik sind nun sieben komponierte Realisationen entstanden, die auf das Partitur-Material von Cages Fontana Mix in unterschiedlicher Weise Bezug nehmen. Die Komponisten waren in der Wahl ihrer Mittel frei - einzig folgende Vorgaben galt es zu erfüllen: Die Besetzung sollte sechs Musiker nicht überschreiten und kein Klavier enthalten, die Dauer des Stückes sollte 10 bis 15 Minuten betragen; eine achtkanaligen Wiedergabe-Anlage wird bereitgestellt.
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Fontana Mix gehört zu den Partituren, die Cage für ein einzelnes Projekt entwarf und sie dann für andere Anwendungen öffnete. Zunächst diente ihm das graphische Material 1958 zur Erzeugung eines Stückes für vier Tonbänder am Studio di Fonologia des Italienischen Rundfunks in Mailand. Doch während das Wesen der Tonband-Musik jener Zeit gerade darin bestand, die übliche Kette musikalischer Vermittlung mit Komponist und Partitur, Interpret, Aufführung und Hörer zu durchbrechen und mit Werken umzugehen, die gerade wegen der ihnen eingeschriebenen Reproduzierbarkeit keine Reproduktionen mehr waren sondern stets original, erstellte Cage mit Fontana Mix Tonbänder, die ausdrücklich Material einer Aufführung sein sollten, nicht das Werk selbst. Die Tonbänder enthielten "17 Minuten Material, das für jede Dauer genutzt werden kann, länger oder kürzer".
Für seine eigene Tonband-Realisation interpretierte Cage die sechs Linien der Partitur als 1. Klangmaterial (wie bei Williams Mix (1952) in den Kategorien Klänge aus der Stadt, Klänge vom Lande, Elektronische Klänge, manuell erzeugte Klänge wie Musik, mit Luft erzeugte Klänge wie Lieder, "kleine" Klänge, die stark verstärkt werden müssen), 2. Veränderung der Lautstärke, 3. Veränderung der Tonhöhe (z.B. Tonbänder schneller oder langsamer abspielen), 4. Veränderung der Klangfarbe (z.B. Filterung), 5. Ein- und Ausschwingvorgang (Winkel des Tonbandschnitts) und 6. Zeitstruktur (stetig oder Wiederholung in einer Tonbandschleife).
Die lange Seite des Kästchenrasters von Fontana Mix interpretierte Cage bei der Bestimmung der time brackets als eine Dauer von 30 Sekunden. Für jeden der vier Kanäle von 17 Minuten Dauer mussten also 17x2=34 Messungen vorgenommen und Klänge erzeugt werden, insgesamt 136.
Für die Wahl von gerade vier gleichzeitig ablaufenden Tonspuren gibt es keinen ersichtlichen Grund, man darf praktische Erwägungen annehmen, die Cage auf die stärkere räumliche Differenzierung früherer Tonbandstücke mit acht Kanälen verzichten ließen. Für meine Aufführung von Fontana Mix mit der Live-Aussteuerung nach WBAI (vgl. Erläuterungen zur Installation Where are we going?) habe ich das vorliegende Bandmaterial auf acht Kanäle von je 8'30" Dauer aufgeteilt. Die Klänge, die zuvor einen Kanal bildeten, liegen nun auf zwei einander unmittelbar benachbarten Kanälen vor.
Dieser Verdichtung steht die Aussteuerung nach WBAI gegenüber , die nur innerhalb bestimmter Abschnitte einzelne Kanäle oder Gruppen von Kanälen klingen lässt. Dabei können die Kanäle gerade dann freigegeben werden, wenn auf ihnen gar nichts zu hören ist. Fontana Mix und WBAI bestimmen so sich überlagernde Aufenthaltswahrscheinlichkeiten. Die Abwesenheit von Klang kann dabei das Lauschen nach dem verstärkten Bandrauschen, letztlich das Lauschen nach der Stille bedeuten.
Die hier verwendete Achtkanal-Fassung aus Cages Fontana Mix Material wurde realisiert mit Jean Szymczak, Tonmeister Studio P4.
Volker Straebel 2.02