Pierre Boulez gehört seit den fünfziger Jahren zu den prominentesten Vertretern der musikalischen Avantgarde. Enttäuscht von schlechten Aufführungen Neuer Musik wandte er sich dem Dirigieren zu. Im Rahmen der "Festtage" leitet er heute [5.4.99] die Staatskapelle mit Mahlers "Lied von der Erde". Mit Pierre Boulez sprach Volker Straebel
Straebel: Herr Boulez, während das Werk Schönbergs vor 1920 ihr eigenes Komponieren stark beeinflußt hat, haben sie sich sehr distanziert zu seiner klassizistischen Phase geäußert. Was interessiert sie heute an der Oper "Moses und Aron", die in diese Periode fällt und die sie am Donnerstag in der Philharmonie aufgeführt haben?
Boulez: Ich habe einen ziemlichen Abstand zu diesem Stück, das ich erst in den sechziger Jahren entdeckt habe, weil es vorher nicht gedruckt war. 1995 dirigierte ich es wieder nach über 20 Jahren und dafür habe die Partitur wieder analysiert. Schönberg war sehr stolz, daß er eine ganze Oper theokratisch auf eine einzige Zwölftonreihe aufgebaut hat, anders als etwa Berg. Er ist wirklich clever mit seinem begrenzten Material umgegangen, und das hat mich sehr beeindruckt, mehr als früher. Man sieht aber auch die Grenze davon, technisch gesprochen. Er ist sehr eingeschränkt in der Aufteilung der Reihe, es gibt viel Symmetrie.
Straebel: Dies steht im Gegensatz zur gewählten Form der Oper.
Boulez: Ja, es gibt einen inneren Widerspruch zwischen dem Vokabular, das immer Variation verlangt, und einer Technik, die Wiederholung verbietet. Es ist interessant zu sehen, welche Probleme Schönberg gehabt hat und wie er versuchte, zur tonalen Welt zurückzukommen. Im Gegensatz zur "Erwartung", wo alles immer neu ist, erreicht er Zusammenhalt durch die satztechnisch versteckte und oft kaum zu hörende Wiederholung einzelner Melodien, ganz anders als Wagner mit seinen Leitmotiven. Diese Technik erinnert eher an Mahler, etwa an den langsamen Satz der IV. Symphonie, wo eine prominente Hauptmelodie später wörtlich als Nebenstimme wieder auftritt. Das ist für mich sehr interessant, denn diese Technik ist zugleich Zitat und organische Entwicklung. Schönberg hat damit die neoklassizistische Oper geschaffen, die Hindemith nie hätte schreiben können.
Straebel: Trotz ihres ambivalenten Verhältnisses zu dieser Gattung tragen sich seit langem mit Plänen für eine eigene Oper. Als Librettisten waren Jean Genet und Heiner Müller im Gespräch. Wie ist jetzt der Stand der Dinge?
Boulez: Nun, die beiden sind inzwischen gestorben, jetzt suche ich wieder einen Mitarbeiter, denn ich halte mich nicht für geeignet, den Text selbst zu schreiben. Ich möchte nicht eine Oper schreiben, das ist mein Problem. Wenn man bedenkt, was in den letzten 30, 40 Jahren im Theater passiert ist, kann man nicht einfach eine Oper schreiben und sagen, ja gut, da ist eine Bühne und da ist ein Orchestergraben. Es gibt mehrere Stücke von mir, die am Theater orientiert sind, wie "Répons" (1981), und ich möchte gerne eine solche Lösung finden, die das alte Theater überwindet, aber in ein Opernhaus paßt. Wenn man etwas wirklich neues erfinden will, muß man es wie Wagner machen und utopisch sein, während man zugleich ganz realistisch ist.
Straebel: Vor 25 Jahren haben sie erklärt, sie wollten in den Musikbetrieb als Dirigent eindringen, um sein System von innen zu verändern. Ist ihnen das gelungen?
Boulez: Nein, das wirtschaftliche System ist zu stark, um es wirklich zu ändern. Ich habe gelegentlich Erfolge gehabt, zum Beispiel in meiner Zeit in London in den siebziger Jahren, als ich Konzerte mit Neuer Musik an Orten gegeben habe, wo sonst keine Musik gespielt wurde. Aber das verschwand wieder, als ich nicht mehr da war. Dafür habe ich erreicht, daß in Paris ein flexibler Konzertsaal gebaut wurde, die "Cité de la Musique", der bleibt natürlich.
Straebel: Ihr jüngstes Werk nach "Sur Incices" (1996) ist das Orchesterstück "Notation VII" nach einer Nummer aus ihrem Klavierzyklus "Douze Notation" von 1946. Welches Interesse haben sie an der Bearbeitung eigener Kompositionen?
Boulez: Das ist wie eine Übung mit sich selbst. Ich habe jetzt einen völlig anderen Zugang zu dem Material als vor 50 Jahren. Als nächstes Stück plane ich "Anthèmes III" nach den ersten beiden für Cello und Geige mit Elektronik. Ich habe das sehr gern, wie Proust immer wieder das gleiche Material zu verwenden, ohne daß die Zusammenhänge offensichtlich werden. Ich schreibe nur selten Stücke, von denen ich sagen kann, gut, das ist fertig. Stattdessen vertraue ich der organischen Entwicklung.
Volker Straebel 4.99